Mittwoch, 29. Juli 2015

Gedanken zu Aphorismen -18-

"Eine Ansichtskarte ist ein Einsamkeitssymptom" - Graham Greene in: "Unser Mann in Havanna"

Wer schreibt heute noch Ansichtskarten?

Meine letzte habe ich im vorigen Sommer verschickt. Und bekommen habe ich zuletzt eine vor wenigen Wochen. Es ist selten, dass ich welche erhalte oder versende.  Wenn also an dem Satz von Graham Greene etwas Wahres ist, dann bin ich nicht sehr einsam, und Menschen, die mir nahe sind offensichtlich auch nicht.

Nun wurde allerdings der Roman aus dem jener Satz stammt im Jahr 1959 erstmals veröffentlicht, mutmaßlich ist er von seinem Autor wahrscheinlich ein Jahr zuvor fertiggestellt worden.

Ende der 1950er Jahre tauschte man sich im Unterschied zu heute schriftlich allerdings für gewöhnlich über hand- oder Maschine geschriebene Briefe oder eben Post- und Ansichtskarten aus.

Heutzutage gibt es da ganz andere Möglichkeiten. Mails, Facebook, WhatsApp, Twitter, Instagram und die unterschiedlichsten Blogportale, um nur einiges zu nennen. Und dort wird geschrieben und gepostet, was das Zeug hält. In bisweilen atemberaubender Frequenz und Geschwindigkeit. Ansichtskarten, die man durchaus auch noch verschicken könnte, dauern und brauchen viel zu lange, gewöhnliche Briefe sowieso.

Ob die Menschen, wenn es 1959 all diese Möglichkeiten schon gegeben hätte, auch so eifrig gemailt, getwittert und gebloggt hätten? Wenn Greene zum Ende der 1950er Jahre eine Ansichtskarte für ein Einsamkeitssymptom gehalten hat, wofür würde er die heutigen, angewandten Kommunikationsmöglichkeiten halten?

Sind die Menschen heute einsamer als in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, oder nutzen sie die Vielfalt der Kommunikationsmöglichkeiten nicht vordergründig, weil sie sich allein fühlen oder sind?

Nach meiner Wahrnehmung stimmt beides. Die Motivationen sind unterschiedlich. Manchmal offenbaren sie sich in der Art und Weise wie geschrieben wird, auch im Inhalt des Geschriebenen derjenigen, die posten, mailen bloggen.

Die Welt, die Beziehungen der Menschen untereinander, innerhalb einer Gesellschaft und im globalen Rahmen sind vielfältiger, differenzierter und komplexer geworden. Und angesichts dessen braucht es mehr und schnellere Kommunikationsmittel als in der Vergangenheit. Und scheinbar braucht es auch immer mehr Geschwindigkeit. Wir waren noch nie so schnell wie heute.

Und da offenbaren sich die Gefahren: Wenn ein Zug mit 300 Kilometern pro Stunde durch die Lande rast, sieht man beim Blick aus dem Fenster vieles nur noch verschwommen. Und, wenn da wo früher eine ländliche Gegend mit nur ein paar Häusern gewesen ist, nunmehr eine große Stadt steht, dann wird es einem kaum noch gelingen, Einzelnes wahrzunehmen.

Längst ist aus dieser Gefahr Realität geworden, eine sich beängstigender weise immer noch mehr, immer noch schneller beschleunigte Realität.

Dort aber, wo Einzelnes immer weniger oder schließlich gar nicht mehr wahrgenommen wird, wo der Blick für Besonderes, für anders Seiendes, für Einzigartiges, verloren geht, dort entsteht der Boden für Einsamkeit. Dort gibt es Menschen, womöglich immer mehr werdende Menschen, die sich inmitten vieler anderer Menschen, in mitten der vielen differenzierten und gleichzeitig komplexen Strukturen und Beziehungen, dem Kommunikationsgewimmel, die sich einsam fühlen.

Und die dem entfliehen wollen und die deshalb schreiben wollen, schreiben müssen, im Zweifel auf Teufel komm raus, schneller, kürzer, sei es auch nichtssagender, um "dabei" zu sein, um nicht abgehängt zu werden, nicht bzw. nicht mehr einsam zu sein.

Diese Menschen sind wahrscheinlich die einsamsten.

Die, die entschleunigter schreiben, vorrangig aus der Motivation der Selbstverständigung heraus, sind oft auch einsam. Wer intensiv, sich bewusst Zeit nehmend, mit einer gewissen Tiefe schreiben möchte, muss ein bisschen einsam sein.

Aber diese Einsamkeit ist eine andere als die Einsamkeit, die ein Einzelner unter vielen Menschen zu spüren bekommt, bisweilen erleidet. Es ist die "neue" Einsamkeit, eine besonders schlimme Einsamkeit.

Wenn heutzutage das Schreiben von Ansichtskarten oder handgeschriebenen Briefen ein Einsamkeitssymptom ist, dann ist es ein Symptom für die andere, die "alte" Einsamkeit, jene, bei der es (noch) nicht um das "dabei sein", das "mithalten müssen" ging, sondern jene, aus der heraus ein Schreiber etwas wirklich mitteilen wollte. Sich tatsächlich austauschen, einander zuhörend, ausreden lassend, seinem Ich und dem ICH anderer Menschen. Ja, mitunter war und ist solches Schreiben auch von dem Wunsch, der Sehnsucht getragen, ähnlich gesinnten Menschen zu begegnen, vielleicht einen guten Freund oder eine gute Freundin zu finden und sich bewahren zu können.

Eine Ansichtskarte, einen handgeschriebenen Brief zu verfassen, ist heutzutage die bewusste Entscheidung für Entschleunigung, für nicht nur oberflächliches Fühlen, für Empfinden von Leben, Leben im ursprünglichen Sinne.

Eine Ansichtskarte, wie ein handgeschriebener Brief sind Symptome für LEBEN! Ein Leben indem sich Menschen Zeit füreinander nehmen, Zeit für das  Besondere, das anders Seiende, das Einzigartige, sie Charakterisierende. Ein anderes Leben als jenes, das in heutiger Zeit generell gelebt wird.

Ich mag, ich schätze dieses andere Leben. Ein anderes will ich nicht.

2 Kommentare:

  1. Karten und Briefe handgeschrieben, das ist so besonders. Über jede Urlaubskarte habe ich mich früher gefreut, heute kommt eigentlich nichts mehr, höchstens eine WhatsApp. Das ist schön, aber schade.
    Als Mädchen hatte ich eine wundervolle Brieffreundschaft nach Litauen. Ein Brief war ca. 10 Tage unterwegs. Und da es uns fast zu lange dauerte, habe ich dann aller zwei Tage geschrieben und sie auch und so war öfter was im Briefkasten. Es waren meist lange Briefe, ein Bild dabei oder eine gepresste Blume aus dem Garten, Efeu etc. Wenn ich diese Briefe im Briefkasten fand, habe ich sie lange in den Händen gehalten bevor ich sie öffnete. Die Freude war groß. Ich habe es geliebt, Post zu bekommen. Ich denke oft an solche Momente und es ist so traurig, dass diese Dinge so sehr verloren gegangen sind. Handgeschriebene Briefe, Bücher zum in die Hand nehmen, der Geruch vom Papier, all das. Ja, und die Zeit, die man sich für all das genommen hat und das Lesen, ganz oft hielt ich die Briefe in der Hand, habe sie mehrfach gelesen, gründlich, Bücher auch. Ich tue das heute auch, so oft ich kann, mit Büchern.
    Heute fliegt so schnell alles an einem vorbei, dass ich mir manchmal vorkomme als würde ein Film vor mir abgespielt und ich bin außen vor der Zuschauer. Aber nur wir selbst können innehalten und uns die Zeit nehmen, neben all der modernen Dinge, auch die alten wertvollen Schätze zu erhalten und nicht zu vergessen, denn sie sind von ganz besonderem Wert.

    Ich lasse dir liebe Grüße hier und wünsche dir einen erfüllten schönen Tag, Arjana.

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    1. Solche Brieffreundschaften hatte ich auch, eine sogar nach Cuba. Die war so sehr beschwerlich, auf Englisch. Das konnte (kann) ich gar nicht richtig.

      Aber allein diese Luftpostbriefe waren etwas Besonderes, und da die von einem sehr hübschen und klugen Mädchen kamen, hielt das Ganze doch eine Weile ...

      Ja, und dann geht es mir wohl generell ähnlich wie Dir: Papier ist das schönste "Medium" überhaupt! ;)

      Viele schöne Grüße und alle guten Wünsche an Dich!

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